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Donnerstag, 26. Februar 2009

Na sowas … (Über ein fälschlich Tucholsky zugeschriebenes Gedicht)


… da hatte ich im Oktober das Gedicht "Wenn die Börsenkurse fallen" mit der Verfasserangabe Kurt Tucholsky eingestellt, weil es mir so gut gefiel (siehe juttas-schreibblog.blogspot.com/2008/10/gedicht-der-woche_30.html). Nur leider hatte ich nicht genug recherchiert (damals wusste ich noch nicht, dass mindestens jedes zweite Gedicht oder Zitat, das man im Internet findet, fehlerhaft ist) und musste nun feststellen, dass es gar nicht von ihm ist (siehe dazu auch den Rundbrief der Tucholsky-Gesellschaft vom März 2009 und Sudelblog, das Weblog zu Kurt Tucholsky).

Denn das Gedicht ist von einem Pannonicus (richtiger Name Richard G. Kerschhofer), hat den Titel Höhere Finanzmathematik und ist nachzulesen auf der Website von GENIUS: Gesellschaft für freiheitliches Denken. Erstmals erschien es in der Preußischen Allgemeinen Zeitung, Nr. 39, 27. 9. 2008, S. VI. Seinen Kommentar dazu konnte man hier lesen (nur leider ist inzwischen das Lesen des Artikels kostenpflichtig):
»Ich bin sicher kein Linker. Und ich fand es zuerst unglaublich, dass diese es sofort für sich reklamiert haben«, sagt Kerschhofer im Gespräch mit der »Presse«. Für ihn sei es nun aber eine »Genugtuung«, dass sein Gedicht wenn auch unter falscher Urheberschaft – so große Berühmtheit erlangt hat.
»Oft werden meine Gedichte ja nicht gedruckt, weil ich mich nicht an die Political Correctness halte«, meint der 69-jährige pensionierte Betriebswirt, der unter anderem für die eher rechtsgerichtete »Zeitbühne« oder die »Wiener Zeitung« Gastkommentare schreibt. Dass man sein Gedicht für ein Werk Tucholskys gehalten hatte, wundert ihn: »So wurde das Wort Derivat – das ich in meinem Gedicht verwende – damals ja noch nicht in diesem Zusammenhang verwendet. Man sieht, dass man nicht alles aus dem Internet glauben darf.«
– Auweia. In der Financial Times sprach er sogar davon, dass »Kurt Tucholsky (…) nicht annähernd so saubere Reime geschrieben« habe wie er. –

Wo er Recht hat, hat er recht, ich meine damit, dass man nicht alles aus dem Internet glauben darf. Mich wurmt das besonders, weil ich normalerweise sehr aufpasse. Es ist eben nicht Tucholsky drin, wenn Tucholsky darüber steht. Allerdings hatte ich mich über den Stil des Gedichtes auch gewundert, er passt wirklich nicht zu ihm, aber auf die Idee, deshalb bei der Tucholsky-Gesellschaft nachzufragen, war ich nicht gekommen.

Woher ich das Gedicht hatte, weiß ich nicht mehr, ich glaube, ich hatte ein paar Zeilen irgendwo gelesen und dann gegoogelt und dann Copy und Paste – voilà. Ein Glück, dass die Tucholsky-Gesellschaft keine Abmahnungen verschickt hat … Einige andere, die ich hier lieber nicht nennen will, hätten das sofort getan. Danke, liebe Gesellschaft.

In der Berliner Morgenpost gibt es gleich eine Gedichtanalyse dazu:
Als erdrückendes Indiz, das von Anfang an gegen eine Urheberschaft Tucholskys hätte sprechen müssen, kommt noch hinzu, dass seine Lyrik zeitlebens sehr viel sperriger war als das ihm jetzt angehängte Gedicht. So hingegen klingt ein echter Tucholsky: »Ihr, in Kellern und in Mansarden, / merkt ihr nicht, was mit euch gespielt wird? / mit wessen Schweiß der Gewinn erzielt wird? / Komme, was da kommen mag. / Es kommt der Tag, / da ruft der Arbeitspionier: / Ihr nicht. / Aber Wir. Wir.« Dies ist die Schlussstrophe eines Gedichts namens »Die freie Wirtschaft«, das unter dem Pseudonym Theobald Tiger am 4. März 1930 in der »Weltbühne« veröffentlich wurde. Auch diese Verse sind kämpferisch und kritisch. Aber sie sind, anders als der Fake »Höhere Finanzwirtschaft«, nicht von dieser monotonen Betulichkeit, die bei einem formal konventionelleren Dichter wie Erich Kästner weit eher anzutreffen ist. Nichts gegen behäbige Paarreim-Strophen; Tucholsky indes war in ästhetischen Dingen um einiges avancierter.
– Ein Fake ist das Gedicht natürlich nicht, weil der Urheber es ja unter seinem Namen veröffentlich hat. –

Auf www.genius.co.at/index.php?id=186 findet sich Das Lied von der Ente, Pannonicus’ Antwortgedicht auf die vielen falschen Zuschreibungen, in dem er sich besonders aufregt, dass das Gedicht erst so gerühmt wurde, aber:
(…)
Das Gerücht samt Metastasen
platzt jedoch wie Börsenblasen:
Mist! Die Verse schrieb ein Rechter –
und da sind sie gleich viel schlechter.

Viel zu billig und zu simpel
ist’s auf einmal für die Gimpel –
»Schreiberling« bin ich indessen
und drum schleunigst zu vergessen.

Meine Schuld laut ihrer Meinung
ist’s, dass Kurt, die Lichterscheinung,
sich im Grabe drehen müsse
ob der »plumpen Wortergüsse«.
(…)
Und als »Post scriptum in Prosa« darunter: »Zwar auch nicht von Tucholsky, dafür aber wirklich von Karl Kraus stammt der Satz ›Ein Gedicht ist so lange gut, bis man weiß, von wem es ist.‹« (Der Satz findet sich übrigens in der Fackel, H. 406, 1915, S. 131)

Hier zum Vergleich Theobald Tigers Gedicht (denn unter dem Pseudonym hatte es Kurt Tucholsky veröffentlicht):
Die freie Wirtschaft

Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen.
Ihr sollt auf euern Direktor vertrauen.
Ihr sollt die Schlichtungsausschüsse verlassen.
Ihr sollt alles Weitere dem Chef überlassen.
Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein,
wir wollen freie Wirtschaftler sein!
      Fort die Gruppen – sei unser Panier!
      Na, ihr nicht.
                          Aber wir.

Ihr braucht keine Heime für eure Lungen,
keine Renten und keine Versicherungen.
Ihr solltet euch allesamt was schämen,
von dem armen Staat noch Geld zu nehmen!
Ihr sollt nicht mehr zusammenstehn –
wollt ihr wohl auseinandergehn!
     Keine Kartelle in unserm Revier!
     Ihr nicht.
                          Aber wir.

Wir bilden bis in die weiteste Ferne
Trusts, Kartelle, Verbände, Konzerne.
Wir stehen neben den Hochofenflammen
in Interessengemeinschaften fest zusammen.
Wir diktieren die Preise und die Verträge –
kein Schutzgesetz sei uns im Wege.
    Gut organisiert sitzen wir hier ...
    Ihr nicht.
                          Aber wir.

Was ihr macht, ist Marxismus.
                                          Nieder damit!
Wir erobern die Macht, Schritt für Schritt.
Niemand stört uns. In guter Ruh
sehn Regierungssozialisten zu.
Wir wollen euch einzeln. An die Gewehre!
Das ist die neuste Wirtschaftslehre.
Die Forderung ist noch nicht verkündet,
die ein deutscher Professor uns nicht begründet.
In Betrieben wirken für unsere Idee
die Offiziere der alten Armee,
die Stahlhelmleute, Hitlergarden ...

Ihr, in Kellern und in Mansarden,
merkt ihr nicht, was mit euch gespielt wird?
mit wessen Schweiß der Gewinn erzielt wird?
    Komme, was da kommen mag.
    Es kommt der Tag,
da ruft der Arbeitspionier:
    »Ihr nicht.
           Aber Wir. Wir. Wir.«

(In Die Weltbühne, 4. 3. 1930, Nr. 10, S. 351, www.textlog.de/tucholsky-freie-wirtschaft.html. Schade, dass im Projekt Gutenberg die letzten beiden Strophen fehlen und dass als Autor Kurt Tucholsky genannt wird. Man kann sich wirklich nicht nur auf eine Quelle verlassen, da kann das Projekt einen noch so guten Ruf haben; siehe http://gutenberg. spiegel.de/buch/1192/3)
Angeblich soll dieser Irrtum durch einen missverständlichen Blogeintrag entstanden sein. Der Blogger hat sich inzwischen auch zu Wort gemeldet. – Tja, die Wege im Spinnennetz sind manchmal unergründlich. – Er schreibt u. a.:
Mit der Bloggerei verhält es sich offensichtlich wie mit der Wissenschaft:
Herr A. liest etwas und zitiert es aus irgendwelchen Gründen falsch.
Frau B. beruft sich in ihrer Veröffentlichung auf A., baut womöglich ihre Argumentation auf A.’s Zitat auf, ohne das Original gelesen zu haben.
Frau B. gilt als Koryphäe auf ihrem Gebiet – deswegen avanciert ihre Veröffentlichung zum Standardwerk, das von vielen StudentInnen gelesen, aber nicht hinterfragt wird.
Irgendwann, nach vielen, vielen Jahren schlägt ein besonders begabter Mensch den Originaltext nach und bemerkt, daß dort gar nicht steht, was in den vielen Publikationen behauptet wird …
Auf einer der Wer-weiß-was-Seiten wurde neulich gefragt, was eine »Nahre« ist. Es stellte sich heraus, dass damit Bahre gemeint war. Nur hatte der Betreiber einer Gedichte-Seite sich vertippt und Nahre statt Bahre getippt. Und andere Seiten haben das Gedicht mit dem Fehler fröhlich übernommen. Bis jemand sich gewundert hat und mal nachgefragt hat.

Und was sagt uns das? Man soll lieber einmal zu viel fragen als zu wenig. Wie heißt es schön in der Sesamstraße: »Wer nicht fragt, bleibt dumm.«

Aber nun habe ich auch mal eine Frage: Warum distanzieren sich plötzlich so viele von dem Gedicht, nur weil es nicht von Tucholsky ist und plötzlich viel zu polemisch. Tucholsky hätte man das ja noch verziehen, aber so … Es hat doch einen Grund, warum so viele Menschen das Gedicht anderen mailen und/oder auf ihrer Seite einstellen. Es trifft doch offensichtlich einen Nerv bei den Menschen, und nicht nur bei "linksgerichteten Kapitalismuskritikern", ob der Verfasser nun ein Rechter oder ein Linker ist.

Nachtrag: Na super, dass ich das erst jetzt mitbekommen habe, die ganze Diskussion über die "Legende im Internet" war nämlich schon im Oktober 2008 …

Noch ein Nachtrag (1. 9. 2012): Und immer noch wird das Gedicht Kurt Tucholsky zugeschrieben …

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