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Freitag, 24. April 2009

Zitat des Tages

Ich habe noch aus Elsass zwölf Lieder mitgebracht, die ich auf meinen Streifereien aus den Kehlen der ältesten Mütterchen aufgehascht habe. Ein Glück! denn ihre Enkel singen alle: ich liebte nur Ismenen. … Ich will mich nicht aufhalten, etwas von ihrer Fürtrefflichkeit, noch von dem Unterschiede ihres Wertes zu sagen. Aber ich habe sie bisher als einen Schatz an meinem Herzen getragen, alle Mädchen, die Gnade vor meinen Augen finden wollen, müssen sie lernen und singen.*

Goethe

„Ich liebte nur Ismenen“ – angeblich von von einem Graf von Schlieben geschrieben – war ein im 18. Jahrhundert viel gesungenes „Modelied“ – Schlager oder Hit würde man heute sagen. Und damit Sie wissen, was unsere Ururururomas einst so begeistert sangen wie heute die Ururururenkelinnen Songs von Silbermond oder Rosenstolz, möchte ich Ihnen den Text nicht vorenthalten. Hier ist er:

Ich liebte nur Ismenen,
Ismene liebte mich;
Vor allen andern Schönen
verschloß mein Herze sich.
Noch heg' ich gleiche Triebe;
nur sie flieht mein Gesicht.
Beweg' ihr Herz, o Liebe,
nur straf' Ismenen nicht!

"Lieb' ich nicht vor allen
(so schwur sie) dich allein;
so mag mein Reiz verfallen,
mein Anblick schrecklich sein."
Aus Neigung zu Narzissen
vergißt sie Schwur und Pflicht.
Erinnre sie, Gewissen,
nur straf' Ismenen nicht.

Sie kam, mich aufzusuchen,
auf meine Flur und fand
mich einsam unter Buchen,
und nahm mich bei der Hand,
und gab mir mit Erröten
den Ring – den Untreu bricht.
Gedanken, die mich tödten,
straft nur Ismenen nicht.

Sie grub in eine Rinde
mit eignen Händen ein:
wer untreu wird, der finde
sein Grab in diesem Hain.
Schont, Götter, schont Ismenen,
die selbst ihr Urteil spricht.
Mein Tod soll euch versöhnen,
straft nur Ismenen nicht!

*in der ursprünglichen Rechtschreibung:
Ich habe noch aus Elsas zwölf Lieder mitgebracht, die ich auf meinen Streiffereyen aus denen Kehlen der ältsten Müttergens aufgehascht habe. Ein Glück! denn ihre Enckel singen alle: ich liebte nur Ismenen. … Aber ich habe sie bissher als einen Schatz an meinem Herzen getragen, alle Mädgen die Gnade vor meinen Augen finden wollen, müssen sie lernen und singen.
(Goethe an Herder 1771; aus Herders Nachlass)

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