Wenn man ganz im allgemeinen fragt, welche Regierung die beste sei, so wirft man eine ebenso unlösbare wie unbestimmte Frage auf, oder auch, wenn man will, eine Frage, die ebenso viele richtige Lösungen hat, als es nur irgendwelche denkbare Berechnungen in den absoluten wie relativen Lagen der Völker gibt.
Fragt man dagegen, woran es sich erkennen lasse, ob ein bestimmtes Volk gut oder schlecht regiert werde, so ist dies etwas anderes, und eine so gestellte Frage kann richtig beantwortet werden.
Trotzdem ist ihre Lösung noch nicht gefunden, weil sie jeder auf seine Weise lösen will. Die Untertanen schätzen die öffentliche Ruhe, die Staatsbürger die persönliche Freiheit; der eine stellt die Sicherheit des Eigentums höher, der andere die der Person; dem einen gilt die strengste Regierung als die beste, dem andern die mildeste; dieser verlangt die Bestrafung, der andere die Verhütung der Verbrechen; der eine findet es schön, von den Nachbarn gefürchtet zu werden, der andere wünscht, ihnen lieber unbemerkt zu bleiben; der eine ist zufrieden, wenn Geld im Umlaufe ist, der andere verlangt, daß das Volk Brot habe. Selbst wenn man über diese und andere ähnliche Punkte derselben Ansicht wäre, hätte man damit viel gewonnen? Die moralischen Größen haben kein eigenes Maß; wäre man sich auch über ihre Kennzeichen einig, wie sollte man es über ihren Wert sein?
Mich persönlich setzt es immer in Verwunderung, daß man ein so einfaches Kennzeichen absichtlich oder unabsichtlich verleugnet. Was ist denn der Zweck der politischen Vereinigung? Doch nichts anderes als die Erhaltung und Wohlfahrt ihrer Glieder. Und welches ist das sicherste Kennzeichen, daß sie sich erhalten und gedeihen? Die Zunahme der Bevölkerung. Man suche doch also dieses vielumstrittene Kennzeichen nicht anderswo. Bei Gleichheit aller übrigen Verhältnisse ist unstreitig die Regierung die beste, unter der sich ohne fremde Hilfsmittel, ohne Naturalisationen, ohne Kolonien die Zahl der Bürger fort und fort vermehrt. Die Regierung dagegen, unter der ein Volk abnimmt und dahinschwindet, ist die schlechteste. Statistiker, das ist eure Sache! Zählt, meßt und vergleicht!
Jean-Jacques Rousseau
(aus Der Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsrechtes. Leipzig [o.J.], S. 120-121)
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vor 5 Jahren
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