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Dienstag, 9. August 2011

Über Aristoteles, Frühstückseier und den springenden Punkt


Wir sprechen vom springenden Punkt, wenn wir die Essenz, das Wesentliche, die Quiddität, wie es so schön heißt, einer Sache bezeichnen, das Wichtigste eines Gedankens, das A und O, des Pudels Kern, den Knackpunkt. Aber warum eigentlich, woher kommt diese Redewendung? Und seit wann springen Punkte?

Nun, seit Aristoteles das Wichtigste eines Vogels entdeckt hat: dessen Herz – den Ursprung des Lebens. Oder, wie es Dieter Nuhr bei Genial Daneben am 3. 5. 2003 auf die Frage, warum man vom springenden Punkt spricht, kurz und prägnant auf den Punkt brachte:
Griechen: Aristoteles: schaute in geöffnete Vogeleier und sah einen springenden Punkt; er dachte es wäre das Herz (lat. quod punctum salet).
Genau genommen spricht Aristoteles jedoch laut der allgemeingültigen Übersetzung seiner Historiai Peri zoon (Tierkunde; Historia Animalium; History of Animals) von Theodorus Gaza  aus dem fünfzehnten Jahrhundert im 6. Buch, Kap. 3, nicht vom springenden Punkt, sondern davon, dass er springt und sich bewegt wie ein Lebewesen (zu gut Deutsch der Blutfleck, den wir mit Igittigitt kommentieren, wenn wir ihn in unserem Frühstücksei entdecken; es ist auch nicht das Herz, sondern solche Punkte sind Blutgerinnsel oder Gewebeteile):
Gallinis porro tertia die ac nocte, postquam coepere incubare, indicium praestare incipiunt, At maiorum auium generi plus praetereat temporis necesse est: minori autem minus sufficit. Effertur per id tempus luteus humor ad cacumen, qua principium oui est, atque ouum detegitur ea parte, et cor quasi punctum sanguineum in candido liquore consistit: quod punctum salit iam, et mouetur, vt animal.
(Aristotelis de Historia animalium libri Nouem, Theodoro Gaza interprete. In Aristotelis Stagiritae Libri omnes. Ad animalium cognitionem attinentes. Ivntas 1550, S. 32)
Bei den Hühnern erscheint die erste Spur nach Verlauf von drei Tagen und Nächten, bei den grösseren Vögeln aber in längerer, bei den kleineren in kürzerer Frist. In dieser Zeit kommt erstens das Gelbe nach oben und nähert sich dem spitzen Ende, wo das Princip des Eies ist, und das Junge auskriecht, zweitens zeigt sich in dem Weissen ein blutrother Punkt, das Herz. Diese Punkt hüpft und bewegt sich, wodurch er sich als ein Belebtes zu erkennen giebt; …
(In Aristoteles Thierkunde: Kritisch-berichtigter Text, mit deutscher Übersetzung, sachlicher und sprachlicher Erklärung und vollständigem Index von H. Aubert und Fr. Wimmer, Bd. 2. Engelmann 1868, S. 15)
Oder, weil es so hübsch klingt, in einer Übersetzung von Konrad Forer aus dem Jahr 1669:
Wan die Hennen 3. Tag / und so viel Nächt / gebrütet habe/ so komt der Eyerdotter in den spitze theil deß Eyes ist: das Ey wird daselbst entdeckt / und stehet das Hertz als ein Bluts-Tropff im Klahren / welcher Tropff allbereit springt / und sich als ein Thier bewegt.
(Von den Hanen. Gallus gallinaceus, S. 179. In Gesneri redivivi aucti et emandati Tomus II. Oder vollkommenes Vogelbuch, darstellend eine wahrhaftige und nach dem Leben vorgerissene Abbildung aller, sowohl in den Lüfften und Klüfften, als in den Wäldern und Fäldern und sonsten auf den Wassern und daheim in den Häusern, nicht nur in Europa, sondern auch in Asia Africa America und anderen neu erfundenen Ost- und West-Indischen Inseln sich enthaltender zahmer und wilder Vögel und Feder-Viehes etc. Sammt einer umbständlichen Beschreibung ihrer äusserlichen Gestalt etc. Vormals durch den Herrn Conradum Gesnerum in Lateinischer Sprache beschrieben, und nachgehends übersetzt: anjetzo von neuem übersehen etc. durch Georgium Horstium. Frankfurt am Mayn: Serlin 1669; der Titel ist so hübsch, dass ich ihn Ihnen einfach nicht vorenthalten wollte)
During this period the yellow liquid is moving to the sharp end, where the principle of the egg is located: and the egg is uncovered in that area, and the heart appears like a speck of blood in the white liquid: and this speck still jumps and moves like a living creature.
(Englische Übersetzung siehe Conrad Gessner: Historiae animalium liber III qui est de Avium natura 1555)
Der Erste, der aus „quod punctum salit iam, et movetur, ut animal“ den springenden Punkt, den Punctum saliens, prägte, war laut William Harvey der niederländische Arzt, Anatom und Vogelkundler Volcher Coiter, der 1573 vom „Punctus saliens jam in albumine potius reperitur, quam in vitello“ geschrieben habe (siehe William Harvey: Exercitationes de generatione animalium (Übungen über die Erzeugung der Tiere; Anatomical Exercises on the Generation of Animals). Elzevirium 1651, S. 125).

Allgemein gilt aber der italienische Arzt und Naturforscher Ulysses Aldrovandi als Begründer des Punctum saliens, des springenden Punkts:
Eadem, die uitellus uidebatur uersus oui partem acutam: atque hoc est, quod dicebat Philosophus. Effertur per id tempus luteus humor ad cacumen, vbi est oui principium, nam ibi est maior calor, & uis spermatis. Apparebat etiam in albumine exiguum uelut punctum saliens, estque illud quod Philosophus cor statuit.
(In Vlyssis Aldrouandi: Ornithologiae tomus alter ... Liber decimusquartus qui est de pulveratricibus domesticis. Apud Baptistam Bellagambam 1600, S. 217)

On the same day the yolk was towards the sharper end of the egg: and this is what the Philosopher said. During this time the yellow liquid moves to the pointed part where the principle of the egg is located, for the heat is greater there as well as the force of the sperm. It was also visible in the albumen something like a small jumping speck, and this is what the Philosopher established as the heart.
(Englische Übersetzung siehe Ulisse Aldrovandi: Ornithologiae tomus alterationis – 1600. Book 14th: Concerning Domestic Dust Bathing Fowls, 1600) 
William Harvey selbst spricht in Exercitationes de generatione animalium an diversen Stellen vom Punctum saliens, so auf S. 123:
Quarto itaque die si inspexeris, occurret jam major metamorphosis, & permutatio admirabilor; quae singulis fere illius diei horis manifestior fit; quo tempore in ovo, de vita plantae, ad animalis vitam fit transitus. Iam enim colliquamenti limbus linea exili sanguinea purpurascens rutilat: ejusque in centro fere, punctum sanguineum saliens emicat; exiguum adeo, ut in sua diastole, ceu minima ignis scintillula, effulgeat; & mox, in systole, visum prorsus effugiat, & dispareat. Tantillum nempe est vitae animalis exordium, quod tam inconspicuis initiis molitur plastica vis Naturae!

Wenn am vierten Tage eine Untersuchung am Ei vorgenommen wird, ist die Metamorphose schon größer und die Verwandlung schon bewundernswürdiger –, und mit jeder Stunde im Verlaufe des Tages augenscheinlicher. In diesem Zeitraum findet der Übergang vom pflanzlichen Leben zum tierischen Leben im Ei statt. Jetzt nämlich zeigt sich ein dünner, rötlicher Rand in der Eiflüssigkeit und, beinahe in seinem Zentrum, zuckt ein springender, blutfarbener Punkt, so klein, daß er im Moment seiner Diastole wie ein kleiner Feuerfunken hervorleuchtet, und er dann, in seiner Systole, dem Blick wieder ganz entschwindet. Als eine solches kaum sichtbares (Kommen und Verschwinden) zeigt sich der Anfang des tierischen Lebens, der von der plastischen Kraft der Natur initiiert wird!
(Zitiert nach Markus Semm: Die Sache selbst in Hegels System. GRIN 1993, S. 36f.)

If the inspection of the egg be made on the fourth day, the metamorphosis is still greater, and the change likewise more wonderful and manifest with every hour in the course of the day. It is in this interval that the transition is made in the egg from the life of the plant to the life of the animal. For now the margin of the diffluent fluid looks red, and is purpurescent with a sanguineous line, and nearly in its centre there appears a leaping point, of the colour of blood, so small that at one moment, when it contracts, it almost entirely escapes the eye, and again, when it dilates, it shows like the smallest spark of fire. Such at the outset is animal life, which the plastic force of nature puts in motion from the most insignificant beginnings!
(In The Works of William Harvey. Translated from the Latin with a Live of the Author by Robert Willis. London 1847, S. 235)
Aber damit ist noch nicht erklärt, wie Aristoteles’ springender Punkt zum sprichwörtlichen springenden Punkt wurde. 

Am besten erklärt das Klaus Bartels in einer Sendung des SWR2 vom 29. 5. 2011:
Der „Springende Punkt“, das „Punctum saliens“, ist einem Nistplatz im Versuchslabor der Aristotelischen Schule entsprungen, … Für das zu Forschungszwecken aufgeschlagene Ei war die Entwicklung damit am Ende; aber dafür ist aus dem halb ausgebrüteten Ei ein Geflügeltes Wort aufgeflogen. … I(i)n der Folge ist dieser „springende Punkt“ zu dem schlagenden Argument eines Plädoyers geworden. Da hat dieser „springende Punkt“ selbst einen tollen Sprung vollführt: von jenem springlebendigen „blutfarbenen Punkt im Weißen“, aus dem einmal ein schlagendes, pochendes Hühnerherz werden sollte, zu dem „Springenden Punkt“ einer Abwägung Pro und Contra, der hüben oder drüben buchstäblich ausschlaggebend in die Waagschale springt.
(Siehe auch Rolf Kussl (Hrsg.): Lateinische Lektüre in der Oberstufe. Kartoffeldruck-Verlag 2009, S. 174)
Man kann es aber auch so sehen: Der springende Punkt im Ei – das Aristotelische Herz – ist das Wesentliche, das, worauf es ankommt.

Bleibt nur die Frage, wann aus dem buchstäblichen der sprichwörtliche springende Punkt wurde.

Soweit ich feststellen konnte, sprach Gottfried Wilhelm Leibniz in seinem Brief an Burchard de Volder  vom 10. 11. 1703 als erster davon:
Sie treffen zweifellos den springenden Punkt, wenn Sie aus meinen Aufstellungen schließen, daß die wahren Substanzen – d. h. die Monaden oder die vollkommenen substantiellen Einheiten, aus denen notwendig alles übrige resultieren muß – keinen Einfluß aufeinander ausüben und daß alle Vorgänge, die dagegen zu sprechen scheinen, lediglich in den Bereich der Phänomene gehören.
(Aus dem Briefwechsel zwischen Leibniz und de Volder. In Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Werke in vier Bänden, Bd. 2. Meiner 1996, S. 508)
Man sprach jedoch auch vom hüpfenden Punkt, wie zum Beispiel Jean Paul (und im übrigen auch Karl Marx, der schreibt: „Und hier springt der hüpfende Punkt des Eies. In den Entwicklungen bestimmter, sittlicher, religiöser oder selbst naturphilosophischer Fragen, wie im ‘Timäus', langt Plato nicht aus mit seiner negativen Auslegung des Absoluten, da ist es nicht genügend, alles in den Schoß der einen Nacht, worin, wie Hegel sagt, alle Kühe schwarz sind, zu versenken; da greift Plato zur positiven Auslegung des Absoluten, und ihre wesentliche, in ihr selbst gegründete Form ist der Mythus und die Allegorie, denn das Herz des Embryo heisst der hüpfende Punkt (punctum saliens)“; siehe MEGA, S. 675):
Achtung hat er blos, aber eine recht wachsende und bange, kurz seine Achtung ist jener kalte hüpfende Punkt im Dotter des Herzens, dem die kleinste fremde Wärme oft nach Jahren – die Metapher ist aus einem Ei geschlagen – wachsendes Leben und Amors-Flügel zutheilt.
(Hesperus, oder 45 Hundposttage. In Jean Paul’s sämmtliche Werke, Bände 7–8. Reimer 1828, S. 17)
Nach seiner Auffassung muss jeder Charakter einen punctum saliens, einen „hüpfenden Punkt“, einen „Hauptton“ besitzen, wie er in der Vorschule der Ästhetik, 2. Abt. 10, § 60, schreibt:
Jeder Charakter, er sei so chamäleontisch und buntfarbig zusammengemalt, als man will, muß eine Grundfarbe als die Einheit zeigen, welche alles beseelend verknüpft; ein leibnizisches vinculum substantiale, das die Monaden mit Gewalt zusammenhält. Um diesen hüpfenden Punkt legen sich die übrigen geistigen Kräfte als Glieder und Nahrung an. Konnte der Dichter dieses geistige Lebenszentrum nicht lebendig machen sogleich auf der Schwelle des Eintritts: so helfen der toten Masse alle Taten und Begebenheiten nicht in die Höhe; sie wird nie die Quelle einer Tat, sondern jede Tat schafft sie selber von neuem. Ohne den Hauptton (tonica dominante) erhebt sich dann eine Ausweichung nach der andern zum Hauptton. Ist hingegen einmal ein Charakter lebendig da, gleichsam ein primum mobile, das gegen anstrebende Bewegungen von außen sich in der seinigen festhält: so wird er sogar in ungleichartigen Handlungen (z. B. Achilles in der Trauer über Patroklus, Shakespeares wilder Percy in der Milde) die Kraft seiner Spiralfeder gerade im Gegendruck am stärksten offenbaren. Dem wielandischen Diogenes von Sinope und (obwohl weniger) dem ähnlichen Demokrit in den Abderiten mangelt gerade der beseelende Punkt, welcher die Keckheit des Zynismus mit der untergeordneten Herzens-Liebe organisch gewaltsam verbände: dieser regierende Lebenspunkt fehlt auch den Kindern der Natur im goldenen Spiegel, ferner dem Franz Moor und dem Marquis Posa, aber nicht der Fürstin von Eboli. Nur durch die Allmacht des poetischen Lebens können streitende Elemente – z. B. in Woldemar Kraft und Schwäche – verschmolzen werden; so im ähnlichen Tasso von Goethe u.s.w. –
Jean Paul schuf auch das Wort „Hüpfpunkt“. Allerdings meint Joachim Heinrich Campe im Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache dazu, dass das ein Scherzwort sei, das man nicht ernsthaft beurteilen wollen müsse. (S. 508)

 Auch Friedrich Schiller verwendet anfangs den hüpfenden Punkt in seinem Gedicht Der Genius:
Jene Zeit da das Heilige noch im Leben gewandelt,
Da jungfräulich und keusch noch das Gefühl sich bewahrt,
Da noch das große Gesetz, das oben im Sonnenlauf waltet,
Und verborgen im Ey reget den hüpfenden Punkt,

(In Friedrich von Schiller’s sämmtliche Werke, Bd. 1: Gedichte. 1826, S. 17)
Später jedoch benutze er gern den „springenden“ Punkt. So „übertragen als das Pochen, mit der an der Schwelle zum 19. Jahrhundert ein Konsortium künftiger Mächte seinen Auftritt verlangt“ (siehe Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, Bd. 49, 2005, S. 416)  aber auch als den leitenden Faden – den roten Faden bei Goethe –, der in einem Drama die „ungeheuren Masse von Handlung“ verbindet, oder auch den „prägenden Moment“, den bedeutungsschwangeren Keim“ in den dramatischen Stoff-Fragmenten, die er in über sechshundert Seiten und Listen hinterlassen hat.

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