Was ist Nation? Ein großer, ungejäteter Garten voll Kraut und Unkraut. Wer wollte sich dieses Sammelplatzes von Thorheiten und Fehlern so wie von Vortreflichkeiten und Tugenden ohne Unterscheidung annehmen, und wenn es eine bloße Meinung von Seelenkräften oder Verdiensten gilt, für diese Dulcinea gegen andre Nationen den Speer brechen? Lasset uns, so viel wir können, zur Ehre der Nation beitragen; auch vertheidigen wollen wir sie, wo man ihr Unrecht tut; sie aber ex professio preisen, das halte ich für einen Selbstruhm ohne Wirkung... Offenbar ists die Anlage der Natur, dass wie Ein Mensch, so auch ein Geschlecht, also auch ein Volk von und mit dem andern lerne, unaufhörlich lerne, bis alle endlich die schwere Lection gefasst haben: "kein Volk sei ein von Gott einzig auserwähltes Volk der Erde; die Wahrheit muss von allen gesucht, der Garte des gemeinen Bodens von allen gebauet werden. Am großen Schleier der Minerva sollen alle Völker, jedes auf seiner Stelle, ohne Beeinträchtigung, ohne stolze Zwietracht wirken." Den Deutschen ists also keine Schande, daß sie von anderen Nationen, alten und neuen, lernen. Das alte Vernunfttestament, wie der Autor die Weisheit der Griechen nennt, ist gewiß nicht verjährt, noch durch die Weisheit der Neuern unkräftig gemacht worden. So darf sich kein Volk Europa's vom andern abschließen, und thöricht sagen: bei mir allein, bei mir wohnt alle Weisheit. Der menschliche Verstand ist wie die große Weltseele; sie erfüllt alle Gefäße, die sie aufzunehmen vermögen; belebend, ja selbst neuorganisierend dringt sie aus allen in alle Körper.
Johann Gottfried Herder (Vierte Sammlung der Briefe zu Förderung der Humanität)
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vor 5 Jahren
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