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Samstag, 30. Mai 2009

Über Würmer, die man nicht nur aus der Nase zieht. I.


Neulich wurde ich gefragt, woher die Redewendung kommt »Jemandem die Würmer aus der Nase ziehen« (was bedeutet, dass man jemanden langsam und durch geschickte Fragen aushorchen muss, damit er Geheimnisse preisgibt). Gute Frage, dachte ich.

Der Ursprung dieser Redensart ist uralt, und ich muss dazu weit ausholen, ganz weit, genauer gesagt bis zu den mesopotamischen Klageliedern. Denn darin beklagten die Sumerer die sieben bösen Mächte utukkū lemnūti, die Krankheiten verursachen beziehungsweise Krankheitsbezeichnungen darstellen. Damals schon nahm man an, dass zum Beispiel Pest und Seuche mehr als nur Krankheitsbezeichnungen waren, sondern „Krankheitsdämonen“, das heißt böse, Krankheiten verursachende Wesen. Und da zu der Zeit Menschen noch mehr mit Zahnschmerzen geplagt wurden als heute, war für dieses Leiden ein Extra-Dämon zuständig: Der Zahnwurm. Um ihn auszutreiben, sprach man eine Beschwörung:
Nachdem Anu den Himmel erschaffen hatte, erschuf der Himmel die Erde, die Erde erschuf Flüsse, die Flüsse erschufen Wasserläufe, die Wasserläufe erschufen Marschland, das Marschland erschuf den Wurm.
Der Wurm kam weinend zu Schamasch. Vor Ea flossen seine Tränen.
»Was willst du mir zu essen geben? Was willst du mir zu saugen geben?«
»Ich werde dir eine reife Feige geben und einen Apfel.«
»Was soll ich mit einer reifen Feige oder einem Apfel? Lass mich zwischen Zahn und Kiefer wohnen, damit ich das Blut des Kiefers saugen kann, damit ich auf den im Kiefer festgeklemmten Essensresten kauen kann.«
»... Weil du das sagtest, o Wurm, soll Ea dich mit der Kraft seiner Hand schlagen!«

Dazu gab es natürlich auch eine Rezeptur:
»Mischbier, einen Brocken Malz und Öl mischst du, rezitierst die Beschwörung dreimal darüber und legst die Mischung auf den Zahn.«
(babylonischen Keilschrifttafel um 1800 v. Chr.)
Zu dieser Rezeptur gibt es aber eine weitere Übersetzung:
Du sollst SA-RIM* pulverisieren und mit Mastix zusammenkneten. Die Beschwörung sollst du dreimal darüber sagen, in den Oberteil seines Zahnes sollst du es bringen.
*Pflanze, welche die Glieder lähmt = Bilsenkrautsamen, die zwei betäubende Alkaloide enthalten

– Und das könnte den „Wurm“ erklären. Denn der aufgegangene Bilsenkrautsamen enthält einen wurmartigen Keim gleich dem – Zahnwurm. –

Diesen bösen Wurm kannte man aber nicht nur in Mesopotamien, er bohrte im alten China, in Indien ebenso wie bei den Azteken. Es wird sogar vermutet, dass das Tier, dass sich um den Äskulapstab wickelt, der Zahnwurm ist.

Aber schon der griechische Arzt Hippokrates hatte um 400 v. Chr. erkannt, dass die Karies »nicht durch einen Wurm verursacht (wird), sondern dass … andere Dinge eine Rolle (spielen)«. Und 600 n. Chr. riet der Prophet Mohammed: »Ihr sollt euren Mund reinigen, denn dies ist der Weg für die Lobpreisung Gottes.«

In Europa interessierte das niemanden. Die römische Kirche empfahl: »Derjenige, der zum Gedächtnis der
heiligen Märtyrerin und Jungfrau Apollonia betet, wird an jenem Tag nicht von Zahnschmerz befallen.« Wenn beten nicht half, sollte man bei Zahnschmerzen den Zahn einer Leiche berührten. Aber da das nicht jedermanns Sache war, führte Hildegard von Bingen den Zahnwurm wieder ein.

Und so lebte der Wurm in der Volksmedizin weiter, auch nachdem Forschungen den Zahnwurm längst widerlegt hatten. Um 1830 schrieb ein schlesischer Kreisarzt im Berliner “Magazin für die gesamte Heilkunde”, dass er zwei Patienten von zwanzig Zahnwürmern befreit habe, nachdem er die schmerzenden Zähne mit dem Magensaft eines Schweins bestrichen hätte, und 1944 heilte ein Heiler in der Südsteiermark Zahnschmerzen, indem er die Würmer mithilfe eines Gefäßes, das über einer Wasserschüssel stand, ausräucherte. Sie sollen dann ins Wasser gefallen sein.

Aber es gab nicht nur den Zahnwurm.

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