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Samstag, 2. Oktober 2010

Seneca über das Alter

Wohin ich mich auch wende, überall finde ich Beweise meines hohen Alters. Bei einem Besuche meines Landgutes in der Nähe der Stadt beklagte ich mich über die Kosten des baufälligen Gutshauses. Der Verwalter erklärte mir, daran sei nicht etwa seine Nachlässigkeit schuld, er lasse es an nichts fehlen, aber das Landhaus sei alt. Dies Landhaus ist unter meinen Händen ausgebaut worden! Worauf muß ich mich gefaßt machen, wenn Steine, die nicht älter sind als ich, schon mürbe werden?

In gereizter Stimmung ergreife ich den nächsten Anlaß, meinen Ärger kundzugeben. "Es liegt am Tage", sage ich, "diese Platanen ermangeln der sorglichen Pflege: sie haben kein Laub. Wie knotig und dürr sind die Äste, wie verkümmert und ungepflegt die Stämme! Dem wäre nicht so, wenn der Boden ringsum gehörig gelockert und bewässert würde". Er schwört bei meinem Schutzgeist, er tue alles, lasse es in keinem Stücke an der nötigen Sorgfalt fehlen, aber die Platanen seien alt. Unter uns gesagt, ich selbst hatte sie gepflanzt, hatte ihr erstes Laub gesehen.

Ich wende mich nun der Tür zu und frage: "Wer ist dieser stumpfe Gesell, der mit Recht seinen Platz am Eingang erhalten hat? Er blickt schon nach dem Grabe. Wo hast du ihn denn aufgelesen? Was fandest du für ein Vergnügen daran, eine fremde Leiche aufzunehmen?" Da rief jener: "Kennst du mich nicht? Ich bin Felicio, den du mit den Bilderchen zu beglücken pflegtest. Ich bin der Sohn deines Verwalters Philositus, dein Liebling". "Er ist rein verrückt", sage ich. "Ist er schon als Bübchen mein Liebling geworden? Wohl möglich: die Zähne fallen ihm eben jetzt aus."

Ich muß meinem Landgut dankbar sein: es hat mir, wohin ich auch die Blicke richtete, mein hohes Alter zum Bewußtsein gebracht. Nehmen wir es also freudig hin und schenken ihm unsere Liebe. Es bietet eine Fülle von Genuß, wenn man es nur von der richtigen Seite anfaßt. Das Obst schmeckt am besten, wenn seine Zeit zu Ende geht; das Knabenalter zeigt seinen größten Reiz im letzten Abschnitt; dem Zecher schmeckt der lelzle Zug am besten, der zum Untertauchen führt und der Trunkenheit die Krone aufsetzt.

Seneca: Wie man seine Lektüre einrichten soll. Aus Lucius Annaeus Seneca (Minor): Epistulae morales ad Lucilium (Briefe über Ethik an Lucilius)

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