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Sonntag, 3. Oktober 2010

Seneca über die Zeit

Bewahre die Zeit! / Carpe diem!*

Seneca grüßt seinen Lucilius

Tue es so, mein Lucilius; rette Dich Dir selbst; sammle und bewahre die Zeit, die Dir jetzt bald geraubt, bald entwendet wurde, bald entschlüpfte. Glaube mir, es ist so, wie ich schreibe: ein Teil der Zeit wird uns entrissen, ein anderer unbemerkt entzogen, ein dritter zerrinnt uns. Doch der schimpflichste Verlust ist der, der aus Nachlässigkeit erwächst; und betrachten wir's genauer, so verfließt den Menschen der größte Teil der Zeit, indem sie Übles tun, ein großer, indem sie nichts tun, das ganze Leben, indem sie andere Dinge tun als sie sollten. 

Wen willst Du mir nennen, der einigen Wert auf die Zeit legte, der den Tag schätzte, der es einsähe, dass er täglich stirbt? Das ist unser Irrtum, dass wir den Tod in der Zukunft schauen: er ist zum großen Teil schon vorüber; was von unserem Leben hinter uns liegt, hat der Tod. Also, mein Lucilius, tue, wie Du schreibst; halte alle Stunden zusammen; ergreife den heutigen Tag, so wirst Du weniger von dem morgigen abhängen.

Indem man das Leben verschiebt, eilt es vorüber. Alles, mein Lucilius, ist fremdes Eigentum, nur die Zeit ist unser. Dieses so flüchtige, so leicht verlierbare Gut, ist der einzige Besitz, in den uns die Natur gesetzt hat; und doch verdrängt uns daraus, wer da will. Und so groß ist die Torheit der Sterblichen, dass sie das Geringste und Armseligste, wenigstens das Ersetzbare, haben sie es empfangen, sich aufrechnen lassen, dagegen niemand sich in Schuld glaubt, wenn er Zeit erhalten, während diese doch das einzige ist, was auch der Dankbare nicht erstatten kann.

Seneca Lucilio suo salutem 

Ita fac, mi Lucili: vindica te tibi, et tempus quod adhuc aut auferebatur aut subripiebatur aut excidebat, collige et serva. Persuade tibi hoc sic esse, ut scribo: quaedam tempora eripiuntur nobis, quaedam subducuntur, quaedam effluunt. Turpissima tamen est iactura, quae per neglegentiam fit. Et si volueris adtendere, magna pars vitae elabitur male agentibus, maxima nihil agentibus, tota vita aliud agentibus. 


Quem mihi dabis, qui aliquod pretium tempori ponat, qui diem aestimet, qui intellegat se cottidie mori? In hoc enim fallimur, quod mortem prospicimus: magna pars eius iam praeteriit; quidquid aetatis retro est, mors tenet. Fac ergo, mi Lucili, quod facere te scribis, omnes horas conplectere; sic fiet, ut minus ex crastino pendeas, si hodierno manum inieceris.

Dum differtur vita, transcurrit. Omnia, Lucili, aliena sunt, tempus tantum nostrum est; in huius rei unius fugacis ac lubricae possessionem natura nos misit, ex qua expellit, quicumque vult. Et tanta stultitia mortalium est, ut, quae minima et vilissima sunt, certe reparabilia, inputari sibi, cum inpetravere, patiantur, nemo se iudicet quicquam debere, qui tempus accepit, cum interim hoc unum est, quod ne gratus quidem potest reddere.


(Lucius Annaeus Seneca (Minor): Epistulae morales ad Lucilium (Briefe über Ethik an Lucilius) http://www.gottwein.de/Lat/sen/epist.001.php

*Da ist mir ein schwerer Fehler unterlaufen. Seneca schreibt zwar auch, dass man den heutigen Tag festhalten solle – si hodierno manum inieceris –, aber er schreibt eben nicht "Carpe diem". Das war Horaz in seiner Ode an Leucone: "Carpe diem quam minimum credula postero" – "Nutze den Tag, und vertraue so wenig wie möglich auf den nächsten!", siehe http://juttas-schreibblog.blogspot.de/2012/08/carpe-diem.html

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