In der Wüste
Eva ließ den Reiseführer sinken, schaute in die Weite, die bis zum Haus gegenüber reichte, stellte das Radio leiser. „Du Toni, weißt du was“, sagte sie zu ihrem Sohn, der gerade in das Wohnzimmer stürmte, „wenn wir in Tunesien sind, machen wir einen Ausflug in die Wüste“.
„Muss das sein?“
„Na ja, ist doch toll, dann sehen wir Oasen, Touzeur, Douz, wie das schon klingt, und fahren nach …“
„Du Mutti, ich muss weg, Heiko und Torsten warten schon auf dem Fußballplatz …“
„Du, Toni, hör doch, hier steht, in Touzeur ist ein Dromeda, das Cola trinkt.“ Eva schaute hoffnungsvoll auf ihren Sohn.
„Echt? Cool! Aber ich muss los!“
Eva seufzte. Blätterte weiter, dachte an den englischen Patienten, an den Himmel über der Wüste, an Karl May, riss sich zur Ordnung, als vor ihren Augen Skelette von Kamelen und andere undefinierbare Knochen erschienen.
„Muss das sein?“, fragte Evas Mutter. „Kein vernünftiger Mensch fährt im August in die Wüste. Und überhaupt …“ Sie schüttelte sich. Vor ihren Augen lagen Eva und Toni, der heiß geliebte Enkel, verdurstend im Wüstensand. „Und außerdem – denk an Hautkrebs, Skorpione, und wilde Beduinen …“
„Nun hör schon auf, Mama, wir fahren doch mit einer Reisegruppe, mit klimatisierten Bussen. Die müssen doch klimatisiert sein.“ Eva dachte an die nicht unerheblichen Kosten des Ausflugs und kurz an romantische, blau gewandete Tuaregs.
Eva flog mit Toni nach Djerba, in eine Ferienanlage mit tausend Betten, Frühstück, Mittagessen und Abendbrot in einem bahnhofswartesaalähnlichen Restaurant, stritt sich am Pool mit anderen Gästen um die spärlich vorhandenen Liegen, wechselte entnervt zum Strand, weil sie nicht morgens um sechs Uhr schon mittels eines Handtuchs die Liege reservieren wollte, stritt sich um einen Schattenplatz unter dem Sonnenpilz, stieg wiederum um sechs Uhr mit einem mürrischen Sohn – „Weißt du, Mutti, wenn ich gewusst hätte, das wir so früh aufstehen müssen …“ – in den Bus.
Nichts mit klimatisiert.
Der Schweiß floss in Strömen, die Fahrt bestand aus Stopps an einer Bar bis zur nächsten, die die Reisenden mit einer leeren Wasserflasche betraten und einer vollen verließen.
Sie aßen Couscous in einer Höhlenwohnung in Matmata.
„Du Toni, hier wurde Krieg der Sterne, Teil I, gedreht“, verkündete Eva.
„Aha“, murmelte der, drehte den Walkman lauter und nuckelte weiter an seiner Colaflasche. Eva überlegte mal wieder, wie schön solch ein Ausflug doch ohne Toni wäre, beschloss, lieber nicht weiter darüber nachzudenken, drückte ihn kurz an sich, strich ihm über die feuchten Locken.
Und der Bus fuhr und fuhr, von Stopp zu Stopp, die Straße flimmerte, die Kleidung klebte, die Augen brannten, der Kopf dröhnte. Eva nahm einen Schluck aus der Wasserflasche. Schon wieder leer. Schaute auf vereinzelte Palmen, Hütten. Wie kann man hier wohnen. Sie dachte an ihr Haus, an die Kastanienbäume an der Straße, an Schatten, Regenwolken, Gänsehaut vor Kälte. Sah hin und wieder ein Dromedar, das hochmütig vor sich hinkaute, schloss die Augen. Träumte von einem Leichenschmaus – habe ich schon einen Sonnenstich – schreckte hoch, vernahm die Stimme des Reiseleiters: „Gleich sind wir in Douz. Dort werden wir aussteigen und auf Dromedaren in die Wüste reiten.“
Eva schaute Toni an, der schaute sie an: „Nee, hoch oben auf solch einem schaukelnden Viech reiten wir nicht, nee, ohne uns.“
Der Bus hielt neben einer Bar – wo es aber auch Bars gibt, dachte Eva, betrachtete die Reifenspuren, die irgendwohin führten. „Dort geht es nach Libyen“, sagte der Reiserleiter neben ihr.
„Aha, Libyen.“ Sie dachte kurz an Gadafi, an wilde Beduinen. Erklärte, dass Toni und sie den Ausflug nicht mitmachen würden – ein Glück, dass sie den Sohn vorschieben konnte.
Die Reisegefährten zogen sich unter viel Gejohle Beduinenkleidung an, stiegen unter noch größerem Gejohle auf die Dromedare, die gelangweilt vor sich hinstarrten, kreischten, als sich die Tiere erhoben – erst das Hinterteil hoch, dass alle nach vorn kippten, dann mit dem Vorderteil nach oben – und verschwanden schaukelnd und schwatzend hinter der nächsten Düne.
Eva und Toni waren allein. Spazierten in die Wüste, in der Ferne die Bar und der Bus und die Reifenspuren, die sich in Richtung Libyen verloren, und vor sich Sand und Dünen und Dünen und Sand. Starrten in die Weite, zweitausendvierhundert Kilometer Nichts bis Timbuktu. Und über sich der Himmel, dieser weite, afrikanische Himmel, und um sich eine Stille … Selbst Toni sagte kein Wort, der lustige, wirbelige Toni stand nur da, hatte den Walkman ausgeschaltet.
„Komm, Mutti“, sagte er schließlich und zog sie an der Hand, „wir gehen jetzt Skorpione jagen“. Und sie wanderten über den Sand, kickten Steine und Coladosen um, freuten sich über jeden Skorpion, den sie erschreckten, zuckten zusammen, als sie das immer lauter werdende Gejohle der Reisegefährten auf ihren Wüstenschiffen hörten, stiegen in den Bus.
Toni schaltete den Walkman ein, nuckelte an der Wasserflasche, guckte von Zeit zu Zeit zu Eva hoch. Schaltete kurz den Walkman aus, legte seinen Kopf an ihre Schulter. „War cool, was?“
Jutta Miller-Waldner
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen