Heinrich von Kleist an Adolfine von Werdeck
Paris, den 28. (und 29.) Juli 1801
Gnädigste Frau,
Lucchesini und Humboldt haben mich vorläufig bei einigen französischen Gelehrten eingeführt. Ich soll nämlich hier studieren, ich soll es, so will es ein jahrelang entworfener Plan, dem ich folgen muß, wie ein Jüngling einem Hofmeister, von dem er sich noch nicht los machen kann. Ich habe auch schon einigen Vorlesungen beigewohnt – Ach, diese Menschen sprechen von Säuren und Alkalien, indessen mir ein allgewaltiges Bedürfnis die Lippe trocknet – Liebe Freundin, sagen Sie mir, sind wir da, die Höhe der Sonne zu ermessen, oder uns an ihren Strahlen zu wärmen? Genießen! Genießen! Wo genießen wir? Mit dem Verstande oder mit dem Herzen? Ich will es nicht mehr binden und rädern, frei soll es die Flügel bewegen, ungezügelt um seine Sonne soll es fliegen, flüge es auch gefährlich, wie die Mücke um das Licht – Ach, daß wir ein Leben bedürfen, zu lernen, wie wir leben müßten, daß wir im Tode erst ahnden, was der Himmel mit uns will! – Wohin wird dieser schwankende Geist mich führen, der nach allem strebt, und berührt er es, gleichgültig es fahren läßt – Und doch, wenn die Jugend von jedem Eindrucke bewegt wird, und ein heftiger sie stürzt, so ist das nicht, weil sie keinen, sondern weil sie starken Widerstand leistet. Die abgestorbene Eiche, sie steht unerschüttert im Sturm, aber die blühende stürzt er, weil er in ihre Krone greifen kann – Ich entsinne mich, daß mir ein Buch zuerst den Gedanken einflößte, ob es nicht möglich sei, ein hohes wissenschaftliches Ziel noch zu erreichen? Ich versuchte es, und auf der Mitte der Bahn hält mich jetzt ein Gedanke zurück – Ach, ich trage mein Herz mit mir herum, wie ein nördliches Land den Keim einer Südfrucht. Es treibt und treibt, und es kann nicht reifen – Denn Menschen lassen sich, wie Metalle, zwar formen so lange sie warm sind; aber jede Berührung wirkt wieder anders auf sie ein, und nur wenn sie erkalten, wird ihre Gestalt bleibend. Ich möchte so gern in einer rein-menschlichen Bildung fortschreiten, aber das Wissen macht uns weder besser, noch glücklicher. Ja, wenn wir den ganzen Zusammenhang der Dinge einsehen könnten! Aber ist nicht der Anfang und das Ende jeder Wissenschaft in Dunkel gehüllt? Oder soll ich alle diese Fähigkeiten, und alle diese Kräfte und dieses ganze Leben nur dazu anwenden, eine Insektengattung kennen zu lernen, oder einer Pflanze ihren Platz in der Reihe der Dinge anzuweisen? Ach, mich ekelt vor dieser Einseitigkeit! Ich glaube, daß Newton an dem Busen eines Mädchens nichts anderes sah, als seine krumme Linie, und daß ihm an ihrem Herzen nichts merkwürdig war, als sein Kubikinhalt. Bei den Küssen seines Weibes denkt ein echter Chemiker nichts, als daß ihr Atem Stickgas und Kohlenstoffgas ist. Wenn die Sonne glühend über den Horizont heraufsteigt, so fällt ihm weiter nichts ein, als daß sie eigentlich noch nicht da ist – Er sieht bloß das Insekt, nicht die Erde, die es trägt, und wenn der bunte Holzspecht an die Fichte klopft, oder im Wipfel der Eiche die wilde Taube zärtlich girrt, so fällt ihm bloß ein, wie gut sie sich ausnehmen würden, wenn sie ausgestopft wären. Die ganze Erde ist dem Botaniker nur ein großes Herbarium, und an der wehmütigen Trauerbirke, wie an dem Veilchen, das unter ihrem Schatten blüht, ist ihm nichts merkwürdig, als ihr linnéischer Name. Dagegen ist die Gegend dem Mineralogen nur schön, wenn sie steinig ist, und wenn der alpinische Granit von ihm bis in die Wolken strebt, so tut es ihm nur leid, daß er ihn nicht in die Tasche stecken kann, um ihn in den Glasschrank neben die andern Fossile zu setzen – O wie traurig ist diese zyklopische Einseitigkeit!
(In Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, hrsg. v. Helmut Sembdner. Hanser, 9. Aufl. 1993, S. 678f.)
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