Auf abertausenden Websites findet man dieses Gedicht von Christian Morgenstern:
Ich wünsche dir fürs neue Jahr
das große Glück in kleinen Dosen.
Das alte lässt sich ohnehin
nicht über Nacht verstoßen.
Was du in ihm begonnen hast
mit Mut und rechter Müh’,
das bleibt dir auch noch Glück und Last
in neuer Szenerie.
Unhemmbar rinnt und reißt der Strom der Zeit,
in dem wir gleich verstreuten Blumen schwimmen,
unhemmbar braust und fegt der Sturm der Zeit,
wir riefen kaum, verweht sind unsre Stimmen.
Ein kurzer Augenaufschlag ist der Mensch,
den ewige Kraft auf ihre Werke tut;
ein Blinzeln – der Geschlechter lange Reihn,
ein Blick – des Erdballs Werden und Verglut.
Sie haben sicher schon erkannt, dass die dritte und vierte Strophe nicht zu den ersten beiden Strophen passen. Richtig: Zwei Gedichte wurden auf wundersame Weise vermischt, wobei natürlich auch noch Änderungen vorgenommen wurden, von der Anordnung der Verse in Strophen ganz zu schweigen. Die beiden ersten Strophen sind Teil eines Gedichtes mit insgesamt vier Strophen von
Elli Michler, die anderen beiden ein Gedicht von
Christian Morgenstern mit dem Titel „Schicksals-Spruch“. Dort heißt es in der letzten Zeile auch nicht „Werden“, sondern „Werdnis“, außerdem ist es nicht in Strophen unterteilt. Eine Website gibt als Urheber Elli Michler & Christian Morgenstern an. Immerhin. Es wäre interessant zu wissen, wer das erste Mal die beiden Gedichte vermengt hat …
Die vollständige Version des Gedichts von
Elli Michler lautet:
Ich wünsche dir fürs neue Jahr …
Ich wünsche dir fürs neue Jahr
das große Glück in kleinen Dosen.
Das alte lässt sich ohnehin
nicht über Nacht verstoßen.
Was du in ihm begonnen hast
mit Mut und rechter Müh’,
das bleibt dir auch noch Glück und Last
in neuer Szenerie.
Erwarte nicht vom ersten Tag
des neuen Jahres gleich zuviel!
Du weißt nicht, wie er’s treiben mag,
es bleibt beim alten Spiel.
Ob gute Zeit, ob schlechte Zeit,
wie sie von Gott gegeben,
so nimm sie an und steh bereit
und mach daraus dein Leben!
(Aus Elli Michler:
Dir zugedacht. Don Bosco Verlag, München, 20. Auflage 2010
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages (vielen Dank an Barbara Michler)
www.ellimichler.de
Und hier ist die richtige Version des Gedichts von
Christian Morgenstern:
Schicksals-Spruch
Unhemmbar rinnt und reißt der Strom der Zeit,
in dem wir gleich verstreuten Blumen schwimmen,
unhemmbar braust und fegt der Sturm der Zeit,
wir riefen kaum, verweht sind unsre Stimmen.
Ein kurzer Augenaufschlag ist der Mensch,
den ewige Kraft auf ihre Werke tut,
ein Blinzeln - der Geschlechter lange Reihn,
ein Blick - des Erdballs Werdnis und Verglut.
Dass viele Nutzer darauf reingefallen sind, nun ja, das ist halt so, aber dass auch Zeitungen wie das Stadtblatt (Anzeiger der Stadt Heidelberg) die falsche Version übernommen haben, ist krass. Die Zeitung hat das aber später richtig gestellt und Elli Michler bei der Gelegenheit gleich interviewt. Das Interview können Sie
hier lesen.
Und krass ist, dass das Deutschlandradio Kultur auch darauf reingefallen ist und das Gedicht in der Programmvorschau für den 1. Januar 2006 unter dem falschen Verfasser ankündigt hat:
Traut denn niemand einer vielleicht nicht ganz so bekannten Dichterin zu, dass sie Gedichte schreibt, die tausende Menschen berühren?
Und nebenbei: Wenn man schon auf seiner Seite darauf hinweist, dass das Gedicht falsch ist, dann sollte man nicht schreiben, dass die gewünschte Klarstellung durch die Tochter von Elli Michler, Barbara Michler, ohne weitere Prüfung erfolgt ist, und die richtigen Fassungen mit dem Zusatz „lt. Barbara Michler“ versehen.
Mir gefällt das Gedicht. Dass es eine Gedicht-Collage ist, ändert daran nichts - und vom WEM es ist, ist mir auch nicht so wichtig.
AntwortenLöschenAber so ist es ein Fake. Auch Christian Morgenstern wäre sicher nicht begeistert, dass man sein Gedicht mit einem anderen vermischt hat. Und nun ja, es gibt auch noch das Urheberrecht, das zumindest im Falle von Elli Mittler gilt.
AntwortenLöschenIch meine natürlich Elli Michler …
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