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Samstag, 21. Januar 2012

Gedicht der Woche: Rilke über einen Esser

Der Esser

… Und gerade mir gegenüber
Saß er und hielt
Einen goldbraunen Rebhuhnflügel
In der protzigen, sommersprossigen,
Breiten Philisterpfote.
Seine winzigen Augen
Grinsten hinter dicken Lidfalten:
Wonne.
So blinzeln Kanonenrohrmündungen
Über Festungswälle. –
Was war das ein Rebhuhn!
Laut schnalzt er.
Dann brandet eine Welle Rheinwein
An den gelben, schiefen Zähnen,
Wälzt sich wie wütend im Wirbel
Her und hin in des Munds
Geräumiger Höhle,
Und stürzt dann zur Tiefe.
Und er gluckste und gurrte,
Steckte den Zahnstocher
Zwischen die triefenden Lippen,
Machte zwei Knöpfe der Weste sich auf
und pfauchte:

„Aber was wollen Sie immer?
Mein Gott, Essen und Trinken
fehlt Ihnen nicht und ein Heim.
Bitt' Sie, die Zeiten sind übel.
Was wollen Sie denn mehr,
Wenn man gesund ist.“

„Aber lieber Herr!
Essen Sie ruhig Ihr Rebhuhn.
Sehen Sie, ich habe so Stunden,
Da möcht' ich
Die Wolken rupfen,
Mit nachtschwarzen Pappelwipfeln
Dem Mond einen Schnurrbart malen
Und Sterne haben
Im Portemonnaie …“

Rainer Maria Rilke 



(In Jugendgedichte. Insel 1987, S. 441 f.)

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